Mensch der Woche #21 oder die vermaledeiten 9er-Zahlen

Ich sass in mein Buch vertieft und mit Gedanken in einer anderen Zeit im Zug, so dass ich nur entfernt wahrnahm, dass der Zug angehalten hatte und Leute an mir vorbei eilten, in der Hoffnung, noch einen freien Platz zu finden. Als jemand beim vorbeigehen meine Flasche von dem Tisch warf, ich mich bückte und sie weider aufhob, fiel mir eine junge Frau auf. Sie war sehr hübsch, hatte aber irgendetwas hartes in ihrem Gesicht, dass ihre Schönheit auf eine verwirrende Art und Weise hinfällig scheinen liess. Sie war sehr schlank und trug eine enge Jeans, die dies noch mehr betonte. Um so erstaunter war ich, als ich bemerkte, dass sie einen kleinen asiatischen Jungen buchstäblich hinter sich herschleifte. Sie hatte seinen Arm fest gepackt und zog ihn durch die engen Gänge hinter sich her, er sträubte sich einige Male hilflos dagegen und richtete danach den Blick wieder auf den Boden. 

"Ist hier frei?", fragte sich mich mürrisch und auf die beiden Plätze neben mir deutend. Ohne ihren unhöflichen Ton zu beachten nickte ich ihr freundlich zu und schenkte dem Jungen ein Lächeln, der sich -mit gebührendem Sicherheitsabstand- neben mich setzte.

Während den ersten fünfzehn Minuten sprach sie kein Wort mit ihm, drückte auf ihren Telefon herum während er irgendwelche mir verborgene Dinge auf der Tischplatte studierte. Über mein Buch hinweg beobachtete ich ihn immer wieder. Obwohl er immer noch grimmig auf die Tischplatte starrte, konnte ich erkennen, dass er ein bildhübscher Junge mit wunderschönen Augen war. Er tat mir leid und ich überlegte mir, wie ich ihn zum Lachen bringen konnte, als seine Mutter plötzlich hochstreckte und sich entrüstete: "Meine Güte Joa- wir müssen noch Mathe lernen!"-um halb zehn nachts mitten in einem überfüllten Zug... Ich konnte den Blick des Jungen nur zu gut verstehen. "Aber Mama...", beeilte er sich verlegen zu sagen. "Nichts da, du schreibst morgen eine Matheprüfung! Was war nochmals das Thema..?". 

" 7 mal 9..?". Er kniff die Augen zusammen und überlegte. Sie seufzte. Verschränkte die Arme vor der Brust, beobachtete ihn mit Argusaugen. Er überlegte immer noch, die Lippen stumm bewegend und wohl die 9ner-Reihe abzählend. "Na komm schon, das ist doch nicht so schwer!", entrüstete sie sich und ich wollte dem Kleinen schon unterstützend beistehen, als er beinahe flüsternd "63...?" fragte. Sie verdrehte erneut die Augen: "Und das nach fünf Minuten...!". Er war verunsichert, begann erneut zu rechnen und bemerkte dabei, dass ich ihn beobachtete. Ich lächelte ihn an und hob einen Daumen. Verunsichert schaute er mich noch einmal an und ich nickte bekräftigend. "Aber 63 stimmt doch..?", versuchte er es noch einmal in Richtung seiner Mutter. Sie stöhnte erneut, als sei sie extrem bestraft mit ihrem Sohn. "9 mal 9", blaffte sie weiter. Er stütze den Kopf auf seine Fäuste und beinahe traten ihm die Tränen in die Augen. "Ich kann die doofe 9ner-Reihe einfach  nicht. Ich will morgen nicht in die Schule!", trotzte er ihr. "Und ob du hingehst! Und zu Hause wird einfach geübt, bis du es kannst!" - Um viertel vor 10 mitten im überfüllten Zug...

Meine Geduld mit der guten Frau, die kaum 5 Jahre älter als ich schien, war nun endgültig zu Ende und das Mitleid mit dem Jungen gewann über den mir anerzogenen Vorsatz, mich nicht in anderer Leute Erziehung einzumischen.

"Psst", flüsterte ich dem Jungen zu. "Ich kenne einen Trick,um die doofe 9ner-Reihe auszutricksen!", und zwinkerte ihm dabei zu. "Einen Trick..?", fragte er argwöhnisch, wohl noch  nicht ganz sicher, ob er mir trauen sollte. "Ja, willst du wissen wie er geht? Ich bin sicher, wenn du den kennst, kannst du die 9ner- Reihe bereits bevor du aus dem Zug aussteigen musst- aber dafür brauchen wir etwas..". "Echt?!", rief er aus und nun strahlten seine Augen freudig. "Wir brauchen was dazu?", fragte er verunsichert. "Ja, da ist so zu sagen eine Aufnahmeprüfung...". "Eine Prüfung?!", und beinahe schien er weider verunsichert. "Na ja,  schliesslich kann ich ja nicht einfach alle in das Geheimnis einweihen...", erklärte ich ihm. "Was muss ich machen?", fragte er und sprang dabei auf, wohl bereit, alles zu tun, um dieses vermaledeite 9ner-Reihe auszutricksen. "Wir brauchen dazu zwei Dinge..", flüsterte ich ihm verschörerisch zu und er kam näher, um in das Geheimnis eingeweiht zu werden. "Als erstes brauchen wir... zwei Hände!", raunte ich ihm zu. Er schaute mich verwirrt an. "Ja aber nicht nur irgendwelche Hände... Wir brauchen zwei Hände mit 10 Fingern dran. Schau mal nach- hast du genügend Finger...?", fragte ich ihn skeptisch. "Aber klar!", beteuerte er. "Hey, da wäre ich mir nicht so sicher- hast du nachgeschaut ob du unterwegs auch keinen verloren hast?", neckte ich ihn. Kurz war er versucht und schaute auf seine Hände runter, da begriff er: "Hey Mama! Hast du schon nachgeschaut, ob du deine Finger unterwegs nicht verloren hast?", versuchte er seine Mutter mit einzubeziehen und musste selbst lachen. Seiner Mutter entlockte dies ein kurzes Brummen, doch er hatte eine solche Freude, dass es ihn dieses Mal nicht störte. "Was ist das Nächste, das ich brauche?", fragte er eifrig wieder an mich gewandt. 

"Hmm...", zögerte ich und musterte ihn noch einmal. "Nun ja, ich denke, die nächste Voraussetzung sollte nicht all zu schwer sein für dich- ich denke nämlich, dass du die 10er- Reihe schon ziemlich gut kannst, nicht wahr?", erkundigte ich mich vorsichtig. Er nickte stürmisch und strahlte. "JA! Zehn, zwanizig, dreissig......HUNDERT!". "Hab ich's doch gewusst!", rief ich aus, "In dir hab ich doch tatsächlich den perfekten Lehrling entdeckt!".  Und er strahlte unaufhörlich und konnte kaum mehr stillsitzen. "Und jetzt?!".

"Also... Dreh deine beiden Hände so, dass die Handflächen nach oben zeigen.", erklärte ich ihm und machte es gleichzeitig mit meinen Händen. "So, und jetzt beginnen wir bei 1 mal 9. Jetzt klappst du den Daumen der rechten Hand "nach unten", der geht jetzt schlafen, so dass er auf deiner Handfläche zu liegen kommt.", woraufhin er sofort seinen rechten Daumen in die richtige Position brachte, einen Blick auf meine Hände warf und meinen Daumen auch noch runter klappte und mich wieder ansah. "Gut- wie viele Finger sind jetzt noch wach?", fragte ich ihn. "Neun.". "Genau. Und der Daume, der zählt nicht. Der ist von nun an unsere Null, okay...?" erklärte ich weiter. Er lachte und nickte wieder. "So,  und nun 2 mal 9. Der Daumen bleibt wo er ist und nun  klappst du den Zeigefinger nach unten, so dass er  den Daumen überdeckt- wie eine Bettdecke.", erklärte ich weiter und beugte dabei seinen Zeigefinger nach unten. "Jetzt sind zwei unten- wie 2 mal 9!", rief er aus. "Genau!", lobte ich ihn. "Jetzt wird es aber schwiriger... Wir wissen nämlich das Resultat noch nicht. Also: Der Daumen ist unsere Null und das bleibt er auch. Alle Finger, die aber NACH der Null gebeugt werden, zählen 10 Punkte.". Er runzelte die Stirn. "Dann haben wir jetzt 10 Punkte?", fragte er nach. "Genau! Wir haben einen Finger unten also 10 Punkte". "Aber das ist ja nicht das richtige Resultat!", entrüstete er sich. "Tja, wir sind ja auch noch nicht fertig! Merk dir zuerst einmal die 10 Punkte. Jetzt zählst du alle Finger, die noch übrig sind...", und noch bevor ich meinen Satz zu Ende sprechen konnte, rief er: "ACHT! Und acht und zehn gibt 18! 2 mal 9 gibt 18!", jubelte er. Ich wurde von seiner Freude angesteckt und merkte, dass uns mittleweilen die Mutter beobachtet. "Wie geht es weiter?", fragte er und setzte sich ungeniert auf meinen Schoss. Ich beugte mich von hinten über sein Schulter und erklärte weiter. "Jetzt kommt 3 mal 9- Mittelfinger nach unten und zählen-weisst du noch wie..?". Er folgte meiner Anweisung und murmelte: "Der Daumen  schläft und zwei Finger bedecken ihn, das sind zwanzig. Und sieben Finger sind noch wach... 27! 3 mal 9 gibt 27!", dabei sprang er auf und zeigte mir seine Finger. "Siehst du! Schon kannst du den Trick. Wie viel ist dann.. hmm... 7 mal 9...?", forderte ich ihn heraus. Er rechntete, lachte vor Freude und so ging es weiter, bis seine plötzlich Mutter aufstand.

"Joa- aussteigen!", rief sie ihn, ohne mich zu beachten. Sie packte ihn wieder bei der Hand und zerrte ihn mit sich. Das Bild erinnerte mich all zu sehr an ihre Ankunft. Diesmal aber schien es ihn nicht gross zu beeindrucken. Er drehte sich noch einmal um und winkte mir zum Abschied. Ich lächelte ihn an und erhob meine Hand ebenfalls. Da riss er sich noch einmal los, lief die wenigen Meter zurück und gab mir unversehens ein Küsschen auf die Wange. 

"Danke", und weg war er.

Kommentare

  1. Wie süß, dass du dem Kleinen mit der doofen 9er- Reihe geholfen hast. Und eine tolle Art, meinen Kids in der Grundschule die 9er Reihe beizubringen. Die Geschichte mit den Fingern merke ich mir. Danke dafür und dir noch einen schönen Abend.

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  2. Aw, das ist so niedlich! Na ja, diese blöde Mutter eher nicht, aber der Junge selbst und dass du ihm geholfen hast, schon. Sowas ist einfach toll.

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  3. Sp süss- ich sehe dich gerade so richtig, wie du mit dem Kleinen übst!

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