Schlüsselmomente

Sobald sie das Haus erblickte, verlangsamte sie ihre Schritte immer mehr, bis sie einige Meter vor der Türe ganz stehen blieb. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte sich innerlich zu stärken und  sich selbst gut zu zu sprechen, für alles, was in den kommenden Stunden passieren mochte. Sie wusste nie, womit sie rechnen musste- oder durfte. Sie sog die frische Luft tief ein und machte dann die letzen Schritte auf die Türe zu. Durch die Glasscheibe konnte sie Licht schimmern sehen und wusste, dass noch jemand auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzen würde. Doch die Türe war verschlossen. Kurz bevor sie die Klingel drückte, kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht doch noch einen Schlüssel hatte. Sie war sich dessen gar nicht sicher. Hatte sie den Schlüssel nun zurückgeben müssen oder nicht?

Sie wühlte in den Tiefen ihrer Tasche, bis sie ihren Schlüsselbund zu fassen kriegte und betrachtete dann Schlüssel für Schlüssel genauer. Doch, da war er noch. Es versetzte ihr einen Stich, dass überhaupt die Möglichkeit bestanden hatte, dass sie ihn nicht mehr hatte. Und noch einen grösseren Stich verursachte ihr die Schlussfolgerung, dass sie diesen Schlüssel eigentlich schon viel zu lange nicht mehr benutzt haben musste, wenn sie sich nicht einmal mehr daran erinnerte, ob sie ihn noch besass oder nicht.

Leise drehte sie den Schlüssel im Schloss, trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Sie streifte die Schuhe ab, hängte die Jacke auf und sah sich um. Eine merkwürdige Schwere ergriff sie, als sie realisierte, dass es anders roch. Fremd. Unbekannt. Eigentlich sah alles noch gleich aus, und doch war alles anders. Sie ging langsam durch den Gang in die Richtung des Lichts, versuchte die Schwere abzuschütteln, bevor sie ihrer Mutter gegenübertrat. Doch die Schwere blieb, liess sich nicht abschütteln, sondern wurde noch schwerer, mit jedem neuen Gegenstand, den sie entdeckte. Ein neuer Tisch. Eine merkwürdige alte Zapfsäule in der einen Ecke. Neue Bilder an den Wänden. Und in der Küche ein Familienplaner mit sechs Spalten. Fünf davon mit Terminen gefüllt, die sechste Spalte leer- dort hätte ihr Name gestanden.

Sie verfluchte die Schwere, die sie zu Boden drückte. Versuchte, ihr ins Gesicht zu schlagen und ein Lächeln aufzusetzten. Doch sie merkte sofort, dass es ein kläglicher Versuch war, der eher einer Fratze glich denn einem Lächeln. Sie verkrampfte sich, als sie sich auf Sofa setzte, ihrer Mutter drei Küsschen auf die Wangen gab und mühsam versuchte, das Gespräch im Gang zu halten. Dann kam der Lebenspartner der Mutter die Treppe hinunter, umarmte sie und übernahm ganz natürlich das Gespräch. Sie entspannte sich, richtete ihre Worte eher an ihn denn an ihre Mutter, froh darüber, ihr nicht die ganze Zeit in die Augen blicken zu müssen.

Nach einigen Minuten Anstands- Smalltalk entschuldigte sie sich mit der Begründung, müde zu sein und ins Bett zu wollen, wohlwissend, dass sie lange keinen Schlaf finden würde. Sie zog sich um und ging ins Badezimmer, wollte ihre Zahnbürste ergreifen, bis ihr in den Sinn kam, dass sie diese aus dem Necessaire in ihrer Tasche holen musste. Als sie mit der Zahnbürste in der Hand wieder ins Badezimmer kam, stand dort ihre Mutter, ebenfalls im Bademantel und strich sich irgendwelche Cremes ins Gesicht. Wieder brachte sie nur ein verkniffenes Lächeln zu Stande, beobachtete sich selbst dabei im Spiegel und erkannte, dass sie eine verdammt schlechte Lügnerin war.

Mittlerweilen war ihre Mutter mit ihrem Schönheitsprogramm durch, wusch sich die Hände und machte Anstalten, das Badezimmer zu verlassen. "Gute Nacht", nickte sie ihr zu, doch kurz bevor ihre Mutter die Tür erreichte, drehte sie sich nochmals um, kam zu ihr und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Alles in ihr drin versteifte sich. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, presste die Arme vor die Brust und biss sich auf die Lippe, darauf wartend, dass sich die Türe hinter ihrer Mutter wieder schloss. Erst da bemerkte sie, dass sie ein Zittern unterdrückt hatte und als sie sich wieder dem Spiegel zuwandte, bemerkte sie die Tränen, die über ihre Wangen rannen.

Kommentare

  1. Sehr ergreifender Text! Wunderschön geschrieben, obwohl ich ihr nur das Beste wünsche. Weil sie es mehr als verdient hätte! Weil ich SIE viel zu sehr mag! <3

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

I'm useless when I'm happy

Update

Weite