Leben- vierter Teil
Sie konnte es kaum glauben. Sein Anblick schmerzte. Er sah ausgelaugt aus, hatte viel zu viel Gewicht verloren in der letzten Zeit. Dafür aber um so mehr getrunken und geraucht. Seine Augen waren glänzig und klein, vergeblich versuchte sie sich an deren strahlendes Blau zu erinnern. Früher versprühten seine Augen Funken, er strahlte und steckte alle seine Mitmenschen mit seiner Freude an. Er war aktiv, musste ständig etwas zu tun haben und hatte Freude an allen und allem um ihn herum. Er hatte ein wunderbares, schallendes Lachen das unglaublich ansteckend war. Ein anderes Lachen, als er jetzt zwischendurch von sich gab. Das neue Lachen war gepresst, viel zu laut und abgehackt. Sie wusste, dass er dies für sie tat. Nur für sie lachte er- um ihr das Gefühl zu geben, es sei alles in Ordnung mit ihm. Sein Lachen log sie an. Er log sie an.
Sie musterte ihn, suchte nach kleinen Anzeichen, die ihr zeigten, dass sein altes Ich noch irgendwo da ist, in ihm schlummert und darauf wartet, wieder geweckt zu werden. Sie suchte und suchte, doch der Mann, der vor ihr stand war ihr fremd. Er roch streng, nach Alkohol und Rauch und Schweiss. Nach einer durchzechten Nacht in der erstbesten Spelunke. Er roch nach Verwahrlosung. Einsamkeit. Und nach einer anderen Frau.
Er richtete sich ein wenig auf, schüttelte die Schulter, als möchte er eine Last abwerfen, seufzte dann und stützte die Arme auf der Stuhllehne ab. Sein Kopf schmerzte wieder stärker. Er rieb sich die Schläfen. „Ich glaube, ich geh noch einmal ins Bett“, meinte er und erhob sich schwerfällig. „Jeremy“, hörte er ihre Stimme leise in seinem Rücken. Er blieb stehen, wagte sich aber nicht umzudrehen. „Es kann doch so nicht ewig weitergehen…“, flehte sie. Er schwieg, wollte sie ignorieren. „Jerry…“, sagte sie nachdrücklich. Er drehte sich zögernd um, irgendetwas in ihrer Stimme hatte sich verändert. Er fühlte, dass er ihr dieses Mal nicht aus dem Weg gehen konnte. Sie hatte sich ein Herz gefasst, den Rücken gestrafft und die Schultern nach hinten gezogen. Er hatte keine Chance mehr. Dieses Mal liesse sie ihn nicht mehr so einfach gehen.
„Es tut mir Leid, Joana. Wirklich. Ich werde mir eine eigene Wohnung suchen.“, meinte er mit leiser Stimme. „Jerry, bitte- Schau mich an! Du weißt doch genau, dass es nicht darum geht- Ich will nicht, dass du gehst. Ich will doch nur, dass du mit mir redest!“. An ihrer Stimme erkannte er, dass sie nun endlich Dinge aussprach, die ihr schon lange auf der Zunge lagen. Lange musst sie wohl überlegt haben, wie sie ihm das sagen will. Er stellte sich vor, wie sie nachts im Bett lag, sich hin und her wälzte und überlegte, wie sie all diese Dinge formulieren wollte. Bei diesem Gedanken überkam ihn eine Woge von Zärtlichkeit. Er wusste, wie sehr sie ihn liebte und er wusste, wie sehr ihr ihre eigene Ohnmacht in dieser Situation zu schaffen machte.
„Du kannst doch nicht einfach immer so weiter machen. Nicht darüber reden macht es auch nicht ungeschehen. Du frisst alles immer nur in dich rein. Versteckst dich hinter deiner Fassade und hast das Gefühl, dass es dir gelingt, mit deiner Farce alle die sich um dich sorgen zu beruhigen. Du tust so, als sei alles in Ordnung, als ginge es dir gut. Und dabei suchst du den Trost in den falschen Dingen. Alkohol und Zigaretten. Und Sex. Glaubst du, ich merke es nicht?“.
Zerknirscht stand er da. Er kam sich vor wie ein Schuljunge beim Nachsitzen. Natürlich wusste er, dass sie sich Sorgen machte. Er wusste, wie sehr sie die ganze Situation belastete und er liebte sie so sehr dafür. Doch er konnte nicht. Er konnte ihr nicht geben, was sie von ihm erwartete.
„Jo… Du bist wunderbar und ich liebe dich, das weißt du. Aber…“, er zögerte. Er wusste, dass er sie mit dem, was er sagen wollte, verletzen würde. Aber es war besser so. Lieber ertrug er ihre Wut, als dass er weiterhin ihren mitfühlenden Blick auf sich spüren wollte. „…du bist nicht meine Psychiaterin.“. Er sah, wie sie zusammenzuckte, für eine Sekunde legte sich der Schmerz in ihren Augen nieder. Sie dachte, sie hätte sich gut unter Kontrolle. Doch er kannte sie nur zu gut. Sie hielt ihm vor, dass er alles in sich rein fresse. Doch gerade jetzt tat sie dasselbe. Aus Rücksicht zu ihm. Er hasste sich selbst dafür. Und er hasste sich für das, was er sagte. „Ich habe es mir überlegt Jo, ich ziehe aus. Wir beide unter einem Dach, das funktioniert einfach nicht.“
„Verdammt Jerry!“, jetzt war sie wütend. Sie stand auf, wollte gleich auf sein mit ihm. „Nein, ich bin nicht deine gottverdammte Psychiaterin- da hast du Recht. Aber ich bin nun einmal deine Schwester und ich mache mir Sorgen um dich. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr es schmerzt, dir zuzuschauen, wie du dich selbst immer mehr kaputt machst!“. Jetzt hatte sie sich in Rage geredet, all die angestauten Worte, von denen sie nicht gewusst hatte, wie sie sie ihm sagen sollte sprudelten einfach aus ihr raus. „Merkst du eigentlich nicht, dass ich der einzige Mensch bin, den du noch hast? Du bist allein Jerry, und das hast du dir selbst zu verdanken. Du bist ein Arschloch geworden. Hast alle von dir weggestossen. Menschen verletzt. Verachtend behandelt. Ignoriert. Jeden, der es gut mit dir meinte hast du vertrieben. Und jetzt bin nur noch ich da. Und mich willst du auch vertreiben.“. Während sie sprach war sie immer lauter geworden und dabei näher gekommen. Er blieb ruhig stehen. Wusste nicht, was er antworten sollte. Sie hatte ja Recht, das wusste er. Und sie wusste es auch. Was sollte er also darauf noch antworten?
Armer Jerry...
AntwortenLöschenIch bin gespannt :P
I love it.. eigentlich sollte ich dich jetzt daran erinnern, dass du am Lernen sein solltest.. aber ICH WILL MEHR DAVON ;)
AntwortenLöschenOh Gott danke :))
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