Verbündete

Ganz vorsichtig steckt sie den Schlüssel ins Schloss. Behutsam dreht sie ihn und zuckt zusammen, als ein leises Quietschen zu hören ist. Sie hält inne, lauscht, doch nichts ist mehr zu hören. Ganz langsam öffnet sie die Tür und tritt ins Dunkel hinein. Ein Schritt, einen zweiten. Sorgsam darauf bedacht, gegen nichts zu stossen, dreht sie sich um die eigene Achse, um die Tür wieder zu schliessen. Kurz atmet sie auf, als dies gelingt, ohne weitere Geräusche zu verursachen. Sie wartet bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, vorsichtig stellt sie ihre Tasche auf die Kommode im Korridor und streift sich die Schuhe ab. Dann steht sie mitten im Raum, sucht ihn langsam ab, keine Ecke lässt sie aus. Ausser ihrem Atem und ihren eigenen, schleichenden Schritten ist nichts zu hören.
Ihr Blick bleibt an der Schlafzimmertür hängen. Sie ist nur angelehnt. Kein gutes Zeichen. Kurz ist sie versucht, leise daran vorbeizuschleichen, reisst sich aber dann zusammen und macht einen Schritt darauf zu. Sie braucht Gewissheit. Vorsichtig späht sie durch den handbreiten Spalt, kann aber nichts sehen. Verdammt, denkt sie. Zögerlich hebt sie die Hand, drück ganz sachte gegen die Tür, bis diese mit einem Knarzen weiter aufschwingt. Sie zuckt zusammen, springt einen Schritt zurück. Ihr Herz schlägt so laut, dass sie nichts Anderes hören kann. Fest drück sie sich beide Hände auf den Brustkorb, fühlt ihr Herz rasen, als möchte es am liebsten aus ihrer Brust hinaus und weitweg rennen. Langsam wird sie wieder ein bisschen ruhiger, wagt sich noch einmal bis zur Tür und steckt den Kopf zwischen Türe und Rahmen hindurch, gerade weit genug, um festzustellen, dass der Raum leer ist.
Wie auf Knopfdruck fällt alle Anspannung von ihr ab, in ihrem Brustkorb löst sich etwas und sie merkt, dass sie wieder frei atmen kann. Sie schliesst die Türe, lehnt sich mit dem Rücken daran und lässt sich langsam zu Boden gleiten. Sie ist allein. Um sie herum ist nichts als Dunkelheit. Dunkelheit und Stille.
Früher hatte sie Angst vor der Stille und der Dunkelheit, ahnte überall Gefahren, hörte Geräusche, sah hier ein Augenpaar aufblitzen und dort einen Schatten zucken. Sie zitterte dann imm am ganzen Leib, verkroch sich unter der Bettdecke und begann ihren Stofftieren Geschichten zu erzählen. Fantastische Märchen mit Prinzessinnen und Prinzen, Feen, Elfen und Zwergen. Meistens aber Geschichten über kleine Mädchen. Mädchen, die von ihrer Mutter in den Arm und von ihren Väter lachend in die Luft geworfen wurden. Mädchen mit wunderschön frisierten Haaren, schönen Kleidchen und vor Freude strahlende Augen. Mädchen mit einem Zuhause, das Geborgenheit schenkte. Mädchen mit liebevollen Familien.
Heute weiss sie, dass nicht die Stille es ist, die ihr gefährliche werden kann und auch nicht die Dunkelheit, die ihr Schmerzen zufügt. Es hat lange gedauert, bis sie dies begriff, doch nun hat sie die Stille und die Dunkelheit zu ihren Verbündeten gemacht. Stille bedeutet Sicherheit, Dunkeheit Geborgenheit. Die Stille ist es, die sie tröstete und die Dunkelheit, die einen schützenden Mantel um sie legt und die sie in den Arm nimmt. Ihnen beiden konnte sie sich anvertrauen, sie würden sie nie verraten. Und so genoss sie diese seltene Momente, an eine kalte Wand gelehnt, in Gedanken im Zwiegespräch mit der Stille und der Dunkelheit.
Die beiden würden sie sofort warnen, wenn Gefahr im Verzug wäre, wenn die Dunkelheit sich gegen das Licht aufbäumen und die Stille dem Lärm weichen müsste- wenn er nach Hause käme.
Beim Gedanken an diesen unasweichlichen Moment, sträubten sich die Häärchen an ihren Armen, ihre Magen zog sich zusammen und ihr Herz begann wieder einen Wettlauf gegen die Muskeln, Sehnen und die Hut, die es ihn ihrem Körper gefangen hielten. Doch sie zwang sich, sich zu beruhige, die Stille und Dunkelheit zu geniessen, solange sie bei ihr waren und schutz gewährten. Sie wusste, dass die beiden auch nicht allmächtig waren, dass sie dennoch weichen müssten, wenn der Moment da war- und der kam immer. Und er siegte immer.
Sie zwang sich, diesen Gedanken zu verdrängen, so lange es noch ging.



Kommentare

  1. Wow. Richtig gut geschrieben. Ich konnte sie förmlich vor mir sehen. Inspirierend.

    Liebe Grüße

    Schmetterling.

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  2. Unglaublich, dass DU das Lied kennst. Ich wußte gar nicht, dass du Russisch kannst...;)

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